Fear-Avoidance Verhalten in Abhängigkeit von Erwartungsinduktionen bei Patienten mit Rückenschmerzen

Nach einem Poster auf dem Schmerzkongress 1999

 

M. Pfingsten (1), B. Kröner-Herwig (2), W. Harter (1), D. Hempel (2), U. Kronshage (2), J. Hildebrandt (1)

(1)  Schwerpunkt Algesiologie,  (2)  Abt. für Klin. Psychologie, Georg-August-Universität-Göttingen

 

Fragestellung: Es besteht immer noch ein Defizit in der Identifikation von Faktoren, die zum Chronifizierungsprozeß, von Rückenschmerzen beitragen. In den letzten Jahren wurden – insbesondere  aus der Arbeitsgruppe um G. Waddell – das Konzept des Vermeidungsverhalten und damit verbunden kognitiver Faktoren („Fear- Avoidance“) als Determinante dieses Prozesses bestimmt. Auf der Grundlage eines kognitiv- behavioralen Modells wurde die Hypothese getestet, dass das Vermeidungsverhalten vorrangig durch kognitive Faktoren beeinflusst wird.

 

Methodik: In einem kontrollierten randomisierten Design absolvierten 50 Patienten mit Rückenschmerzen unter standardisierten Bedingungen einen einfachen Bewegungstest (Bein- Flexion) (s. Abb. 1).

Abb. 1: Form der Bewegungsübung

 

25 Patienten der Experimentalgruppe (randomisierte Zuweisung) wurden darauf hingewiesen, dass die Bewegung zu einer kurzfristigen Schmerzverstärkung führen könne (was objektiv gesehen nicht der Fall sein kann).  Die Patienten der Kontrollgruppe (N=25) erhielten vorab die „richtige“ Information, dass die Bewegung keinen Zusammenhang zu ihren Rückenschmerzen hat (s. Abb. 2).

 

Abb. 2: Testanweisung

 

Als abhängige Variable wurden die situative Schmerzintensität und Angst (vor und nach der Instruktion), mehrere Leistungsparameter im Bewegungstest und die subjektive Bewertung über die „Unpleasantness“ des Tests erhoben.

 

Ergebnisse: Die Patienten unterschieden sich nicht in Bezug auf Alter und Geschlecht, subjektive Schmerzintensität, Dauer der Schmerzen und der vorausgehenden Arbeitsunfähigkeit, subjektiven Beeinträchtigungserleben (PDI) sowie Depressivität (ADS).

Abb. 3: Unterschiede zwischen Experimental (rot) und Kontrollgruppe (grün) hinsichtlich der Leistungsparameter sowie der Bewertung des Tests (ANOVA)

 

Die Experimentalgruppe zeigte nach der Instruktion nicht nur hoch signifikante geringere Leistungen im Bewegungstest (pro Durchgang geleistete Arbeit, Anzahl der durchgeführten Bewegungen, Winkelausmaß der Bewegungen; s. Abb. 3), sondern gab nach der Instruktion auch mehr Angst und eine höhere Schmerzintensität an als die Kontrollgruppe (s. Abb. 4+5); zusätzlich wurde das Experiment von den Teilnehmerinnen der Experimentalgruppe signifikant negativer bewertet. 

 

Abb. 4+5: Subjektive Schmerzintensität und Angst im Verlauf des Experimentes (rot: Experimentalgruppe, grün: Kontrollgruppe; MZP1: vor Instruktion, MZP2: nach Instruktion, MZP3: nach Test)

 

Um den Einfluss der Fear- Avoidance auf die unabhängigen Variablen zu untersuchen, wurden 3 multible Regressionsanalysen mit den Zielvariablen „mittlere Arbeit“, „Bewegungswinkel“ und Bewertung des Experiments („Unpleasantness“) durchgeführt.

 

Als Prädiktoren wurden Geschlecht der Patienten, Schmerzintensität, Schmerzdauer, PDI (Disability), ADS (Depressivität), Dauer der Arbeitsunfähigkeit, sowie die 3 Subskalen des FABQ berücksichtigt. Um die Effekte der Schmerzerwartung (experimentelle Instruktion) einzubeziehen, wurden zusätzlich die rechnerische Differenz von Schmerzintensität und Angst vor und nach Instruktion (S-Diff und A-Diff) berücksichtigt.

 

Für die zwei Parameter des Bewegungstests erklärt die Subskala 3 des FABQ (Rückenschmerz und Aktivität) den größten Varianzbeitrag. Scherzparameter sowie das Ausmaß der Depressivität finden keinen Eingang in die Regression. Die gemessenen Verhaltensaspekte werden demnach vorrangig – und unabhängig von der induzierten Angst und Schmerzerwartung – beeinflusst durch die kognitiven Faktoren, nämlich Überzeugungen der Patienten über den Zusammenhang von Aktivität und Rückenschmerz (Subskala 3 des FABQ). Die Variable „A-Diff“ in der dritten Regressionsanalyse macht deutlich, dass das Ausmaß der negativen Bewertung des Bewegungstests ((„Unpleasantness“) vorrangig abhängig war von der durch die Instruktion induzierten Angst.

 

Tab. 1: Ergebnisse der Regressionsanalyse (s. Text)

*: p<0,05 **: p<0,01 ***: p<0,001

 

Die Ergebnisse zeigten, dass das Vermeidungsverhalten von Patienten mit Rückenschmerzen in deutlicher Weise durch kognitive Faktoren beeinflusst ist. Überzeugungen über die Zusammenhänge zwischen Bewegung/Aktivität und Rückenschmerzen bestimmen offensichtlich das Verhalten der Patienten in erheblicher Weise. Zweitens machen die Ergebnisse deutlich, wie leicht dieses Verhalten durch entsprechende Erwartungshaltungen (s. Instruktion) beeinflusst werden kann.

Aus den Ergebnissen ergeben sich sowohl Konsequenzen für die Behandlung von Rückenschmerzen (Konfrontations- Training und Extinktionsbehandlung) als auch für den allgemeinen diagnostisch/therapeutischen Umgang mit dem Problem Rückenschmerzen. Da das resultierende Verhalten der Patienten offensichtlich in „leichter“ Weise durch entsprechende Informationen beeinflusst werden kann, kommt den von therapeutischer Seite als auch in den Medien verbreiteten Ratschlägen für das Verhalten von Rückenschmerzpatienten besondere Bedeutung zu. Ratschläge, die die „falschen“ Krankheitsmodellvorstellungen festigen (Ruhe, Schonung, Bewegungsvermeidung), sollten möglichst unterlassen und die Patienten im Gegenteil zu einem aktiven, gesundheitsfördernden Bewegungsverhalten ermuntert werden.