Aktive Schmerztherapie der IGOST 
 
Helmut E. Brunner

1. Entstehung und Weiterentwicklung der IGOST

Die IGOST (Interdisziplinäre Gesellschaft für Orthopädische und Unfallchirurgische Schmerztherapie) wurde – wie die FPZ-Gruppe – 1993 gegründet. Ravensburg (am Bodensee) gilt als Gründungsort. Mitbegründer waren 30 besonders engagierte orthopädische Kollegen, die noch bis heute in der Gesellschaft tätig sind. Sie hatten das Ziel, die neuen Erkenntnisse der Schmerztherapie in ihrer wissenschaftlichen Bedeutung und in ihrer Umsetzung am Patienten in der Orthopädie zu etablieren. 

 

Unter der Führung des 1. Präsidenten Dr. med. Martin Strohmeier, hat die Gesellschaft rasch an Mitgliedern gewonnen, unter der Beteiligung der Kollegen Dr. med. Klaus Wolber wurden die ersten Fort- und Weiterbildungsveranstaltugen geformt und durch das Engagement von Prof. Dr. med. Jürgen Krämer aus Bochum erschienen die ersten wissenschaftlichen Arbeiten der IGOST. Der Kollege Dr. med. Hermann Locher hat gemeinsam mit Prof. Dr. med. Zieglgänsberger vom Max Planck Institut in München wesentliche Erkenntnisse der neurophysiologischen Schmerztherapie auf die Erkrankungen des muskuloskeletalen Systems bezogen, aus ihnen hergeleitet und erklärt.

 

Heute zählt die IGOST nahezu 1200 Mitglieder, überwiegend Orthopäden aus dem niedergelassenen Bereich, aber auch zunehmend Kliniker und Kollegen aus allen klinischen Fachbereichen. Die IGOST hat etwa 200 Kollegen als spezielle orthopädische Schmerztherapeuten zertifiziert sowie 20 Kliniken als schmerztherapeutische Einrichtungen ausgezeichnet. Hierbei ist besonders hervorzuheben, dass die IGOST die einzige Schmerztherapiegesellschaft in Deutschland ist, die regelmäßig alle 2 Jahre eine Rezertifizierung obligat fordert und durchführt. 

 

Darüber hinaus ist die IGOST an allen orthopädischen und schmerztherapeutischen Kongressen mit Symposien beteiligt und führt regelmäßig eigene Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen durch. Das breite Spektrum reicht von Kursen zur Injektionstechnik und den minimalinvasiven Verfahren an der Wirbelsäule an den Universitätskliniken in Bochum und Münster bis hin zu Akupunkturkursen und Kursen zur Neurolinguistischen Programmierung (NLP) im Bereich der IGeL. So werden weiterhin die Inhalte der Wissenschaft und deren Umsetzung am Patienten in der orthopädischen Schmerztherapie gewährleistet. Hierbei arbeitet die IGOST – wie auch das FPZ-Konzept – eng mit dem BVO (Berufsverband der Orthopäden) zusammen und koordiniert bundesweit Aktionen zur Gesundung von Rückenschmerzen, auch im Rahmen der Bone and joint decade. 

In der Entwicklung der neuen Facharztbezeichnung Orthopädie/Unfallchirurgie erwächst der IGOST auch die Aufgabe, wissenschaftliche Aussagen im Bereich der perioperativen Schmerztherapie zu treffen, mithilfe derer (und entsprechender Konzepte) die Ergebnisse orthopädischer und unfallchirurgischer Eingriffe langfristig verbessert werden können. Eine weitere Herausforderung besteht in der Erstellung von Konzepten zur Therapie orthopädischer onkologischer Behandlungsfälle zur Verbesserung der Lebensqualität bei Krebserkrankungen unter Knochenbeteiligung.

Die Vorstände des BVO und der DGOOC (Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie) haben die IGOST im Jahre 2004 dazu berufen, als Sektion Schmerztherapie diese Aufgabe in der DGOOC für das gesamte Fach zu übernehmen – eine Herausforderung und Verpflichtung zugleich. Dies umso mehr, da die ökonomischen Voraussetzungen im Gesundheitswesen dieses Landes bei fortschreiteder Überalterung der Bevölkerung und geringer werdenden Ressourcen zunehmend Schwierigkeiten hinsichtlich der Behandlung und Behandlungswege mit sich bringen werden. Die Kosten für die Behandlung von Rückenschmerzen – Akutschmerzen und die hohe Rate der Chronifizierung – haben in den letzten Jahren ständig zugenommen und führen das Gesundheitssystem – neben der Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und verstärkt von psychiatrischen Erkrankungen – an den Rand des Ruins. Dem System droht gewissermaßen eine Crashsituation mit der Gefährdung des gesamten sozialen Netzes. 

Da die alten Behandlungsstrategien nicht mehr ausreichen, diese Entwicklung zu beherrschen, müssen neue integrative Versorgungssysteme gefunden und eingeführt werden, um die Behandlung der Erkrankungen des muskuloskeletalen Systems zu gewähr- leisten. Auch auf diesem Gebiet arbeitet die IGOST und wird integrierte Versorgungssysteme anbieten, die nicht nur kurzfristig, sondern über lange Jahre hinweg eine qualitativ optimale Behandlung garantieren. Hier ist es besonders wichtig, geeignete Kooperationspartner zu finden, die ebenfalls bereits bewährte und wissenschaftlich gesicherte Präventions- und Behandlungskonzepte einbringen. Solche Konzepte müssen in überschaubare Formen gebracht werden, die auch in ihrer Dokumentation im ambulanten und stationären Bereich zu handhaben sind und deren vertragliche Bestimmungen zweifelsfrei bestehen können. Dieses Buch soll dazu beitragen, neue Wege zu eröffnen und aufzuzeigen.


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2. Fehlentwicklungen in der Vergangenheit 

Der Versuch, neue Entwicklungen anzustoßen, setzt eine kritische Auseinandersetzung mit den Fehlern der Vergangenheit und konkret mit den Fehlern aller Beteiligten im System voraus. 

Eine Fehlentwicklung liegt sicher in der Einstellung der Bevölkerung zur eigenen Gesundheit und Verantwortung in diesem Bereich. Die Motivation zur gesunden Ernährung und Bewegung zeigt eine schlechte Tendenz. Demgegenüber nimmt die Zahl von übergewichtigen und „unterbewegten“ Kindern und Jugendlichen immer mehr zu. Diese Entwicklung wurde von vielen Eltern übersehen. Sie delegierten ihre Verantwortung an Kindergärten und Schulen. Bedingt durch personelle Strukturen und Ausbildungs- und Lehrpläne jedoch, die der Aufgabe nicht gerecht wurden, war es den Einrichtungen nicht möglich, dieser Entwicklung entgegenzutreten. Eine Gesundheitserziehung mithilfe von Ernährungs- und Bewegungsprogrammen im Kindergarten und in der Schule hat es faktisch nie flächendeckend gegeben. Sie wird auch heute noch unzureichend und nicht suffizient durchgeführt. Mangelnde Ressourcen führten zu Einschränkungen im Sportunterricht, und bestehende Gesetze zu entsprechender Schulmöbelausstattung – wie in Nordrhein-Westfalen vorhanden – wurden nicht umgesetzt. Auch private Sporteinrichtungen waren nur beschränkt in der Lage, durch animierende Angebote, z.B. bei den Fun-Sportarten, das Defizit zu reduzieren.

Darüber hinaus hat eine neue Spielkultur durch Technik und Computerspiele das Freizeitverhalten verändert und zur weiteren Immobilität junger Menschen geführt. Die Medienwelt zeigt und fördert überwiegend den Spitzensport – bei Vernachlässigung des Breitensports – und begünstigt damit den passiven Sportkonsum. Der Anreiz zur Nachahmung hält sich somit in Grenzen. Wohlstand und eine breit angelegte Verkehrspolitik (Bus und Bahn, eigenes Auto und Motorrad) fördern die Bewegungsarmut. Von politischer Seite gab und gibt es keine oder nur vereinzelte Anstrengungen, dieser Gesamtentwicklung entgegenzutreten. 

Nach der Ausbildung und insbesondere in der Arbeitswelt fehlt es an Anreizen für den verantwortungsbewussten Umgang mit der eigenen Gesundheit. Nur wenige Unternehmen haben erkannt, dass durch gezieltes Training am Arbeitsplatz (und Umgebung) die Gesundheit und damit die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter gesteigert werden kann. Länder wie z.B. Japan oder die USA haben in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich bessere Voraussetzungen geschaffen, was sich deutlich positiv auf die Erkrankungszahlen und Fehlzeiten in Unternehmen ausgewirkt hat. 

Körperliche Tätigkeit, gezielte Bewegung und Fitness fördern nicht nur die Gesundheit, sondern auch die Leistungsbereitschaft – letzten Endes die Zufriedenheit am Arbeitsplatz. Das FPZ hat – wie z.B. am Frankfurter Flughafen – wertvolle wissenschaftliche und praktische Arbeit geleistet und Konzepte entwickelt, die die Situation vor Ort verbessern. Die Einbindung von Unternehmen/Arbeitgebern in ein Präventionsprogramm zur Verbesserung von Rückenbeschwerden erscheint notwendig und sinnvoll. Da sich in der Zukunft die Altersruhe aus ökonomischen Gründen eher ins höhere Lebensalter verschieben wird und deshalb die Fitness im Beruf länger gewährleistet sein muss, ergibt sich daraus die Notwendigkeit, die Programme über einen längeren Zeitraum anzubieten. 

Bisher wurde im Alter die Mobilität auf geistiger und körperlicher Ebene zu wenig gefördert und gefordert. Die Zunahme von Pflegeaufwand und Pflegebedürftigkeit bei deutlich höherer Lebenserwartung stellt die Gesellschaft vor große personelle, organisatorische und finanzielle Probleme. Es kann die Situation eines permanenten Personalmangels eintreten, und schon heute ist das System auf Pflegekräfte aus den Ländern des Ostens angewiesen, um die Pflege aufrechtzuerhalten. 

Die politische Vermittlung dieses Prozesses, die Darstellung der Notwendigkeit, das eigene Gesundheitsverhalten radikal zu verändern und Perspektiven für die unmittelbare und fernere Zukunft aufzuzeigen, wurden jahrelang vernachlässigt und befinden sich derzeit erst am Anfang. Dazu gehört auch die Vermittlung der Erkenntnisse der modernen Schmerztherapie von Rückenbeschwerden, die heute als ein biopsychosoziales Krankheitsbild verstanden wird. Die frühe Wissensvermittlung über Schmerzentstehung, -leitung, -verarbeitung und -beantwortung wurde bisher versäumt und sollte in Zukunft bereits in der Schule beginnen. 

Es gibt auch in der Wissenschaft noch Erkenntnislücken, etwa was den Zusammenhang zwischen sozialen Faktoren und Wirbelsäulenbeschwerden betrifft. Sie müssen geschlossen und den Patienten zum besseren Verständnis vorgetragen werden. In den letzten Jahren nahmen die Veröffentlichungen wissenschaftlicher Arbeiten auf dem Gebiet der Schmerztherapie deutlich zu, jedoch sind die Ergebnisse nur unzureichend in die Lehre und Behandlungsprinzipien eingeflossen. Somit ergeben sich bis heute wesentliche Defizite im medizinischen System zur suffizienten Bewältigung der Volkskrankheit Rückenschmerz. 

Das Medizinstudium ist insbesondere in der klinischen Ausbildung geprägt von fachspezifischer Diagnostik und Therapie. Organanamnese, -diagnostik und -therapie stehen im Vordergrund und beherrschen die medizinische Denkweise. Inhalte schmerztherapeutischer Krankheitsbilder unter biopsychosozialer und ganzheitlicher Sicht haben eher Seltenheitswert. Institute und Lehrstühle für Schmerztherapie sind so gut wie nicht vertreten und werden nicht gefördert. Die Vermittlung seltener Krankheitsbilder verzerrt den Blick für die spätere Aufgabe, weit verbreitete Krankheiten früh zu erfassen und deren Chronifizierung zu verhindern. 

Auch die weitere Facharztausbildung ist meist nicht geeignet, die Defizite des Studiums auszugleichen. In der Hausarztausbildung wird zu oft die grundlegende Vermittlung von Untersuchungstechniken der Wirbelsäule, von neurologischen Grundkenntnissen zur Früherkennung von neurologischen Ausfällen (mit der Notwendigkeit der operativen frühen Intervention) und der Fähigkeit zur interdisziplinären Handlungsweise vermisst. 

Aber auch in der Facharztweiterbildung Orthopädie/Unfallchirurgie sind Fehlentwicklungen mit fatalen Folgen zu verzeichnen. Die somatisch ausgerichtete Denkweise im Studium wird durch eine Überbewertung technischer Diagnosemöglichkeiten verstärkt. Die an sich hervorragenden Verbesserungen der radiologischen Diagnostik führen dazu, Krankheitsherde exakt darzustellen und sie an der Stelle zu therapieren. „Diese exakte Stelle“ muss aber mit der eigentlichen Störung der Gesundheit nicht übereinstimmen. 

Des Weiteren muss festgestellt werden, dass eine Vielzahl von radiologischen Untersuchungen aus juristischer Indikation erfolgt, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, „etwas übersehen zu haben“. So gibt es eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen, die den Nachweis erbringen, dass radiologische Diagnostik häufig ohne diagnostische und therapeutische Konsequenz erfolgt und daraus ein volkswirtschaftlicher Schaden erwächst. 

Die Möglichkeiten der minimalinvasiven und operativen Therapien sind in den letzten Jahren sprunghaft angestiegen und zeigen aufgrund technischer Errungenschaften ein breites und viel versprechendes Spektrum neuer Behandlungsansätze. Leider fehlt es bei vielen Verfahren noch an wissenschaftlichen Erkenntnissen und Studien mit genügend großer Patientenzahl und einer langfristigen Kontrolle der Behandlungsergebnisse. 

Die IGOST sieht es als ihre Aufgabe an, hier Studien zu fördern, Techniken der minimalinvasiven und -operativen Verfahren darzustellen und zu standardisieren und langfristige Ergebnisse zu publizieren, um die Sicherheit der Methoden zu verifizieren. Eine weitere Aufgabe besteht darin, die Schnittstellen zwischen ambulanter und stationärer Therapie zu schließen, die immer noch Schwachstellen aufweisen. Es unterliegt weitgehend dem „Prinzip Zufall“, welcher Rückenschmerzpatient an welcher Stelle des Gesundheitssystems auftaucht, wie oft und wo er ambulant weiterbehandelt wird, welche diagnostischen Schritte unternommen werden und wo die Untersuchungsbefunde verbleiben, welche Konsiliaruntersuchungen durch wen veranlasst werden und wer wann welche Indikationen zur weiterführenden Diagnostik und Therapie stellt. So muss heute mit einem Leidensweg des Patienten von 8 bis 10 Jahren gerechnet werden, bis er mit einer „somatoformen Schmerzstörung“ an der richtigen Stelle behandelt wird. In dieser Zeit ergeben sich erfahrungsgemäß eine Vielzahl von Doppel- und Mehrfachuntersuchungen und Therapien, die oft – auch bei Notwendigkeit einer stationären Behandlung – in der Klinik noch einmal wiederholt werden. Dies führt zur Verunsicherung des Patienten mit der Folge einer fortschreitenden körperlichen und sozialen Immobilisierung. 

Eine Vielzahl von Diagnosen mit verwirrender Terminologie trägt außerdem nicht dazu bei, die Eigenheilkräfte des Patienten zu fördern. So kann ein chronifizierender Rückenschmerz diagnostiziert werden als „zweifacher Bandscheibenvorfall mit dringender Indikation zur Operation“ und eben-so als „unspezifischer Rückenschmerz mit biopsychosozialer Komponente und Indikation zur Psychotherapie“. Wer einmal als Gutachter ein Sozialgerichtsverfahren mit 10.000 Seiten und 15 Fachgutachten von verschiedenen Fachgruppen mit mehr als 60 verschiedenen Diagnosen zum Rückenschmerz bearbeitet hat, bekommt eine Vorstellung davon, dass der Patient (und Kläger) nicht mehr „in die Arbeitswelt zurückzuführen“ ist. Damit erzeugt das System eine Vielzahl von Früh- und Falschrentnern, die das Rentensystem zusätzlich belasten, hohe Folgekosten verursachen und den sozialen Zusammenbruch vorantreiben. 

Den betroffenen Rückenschmerzpatienten im mittleren Lebensabschnitt haftet gleichzeitig das Image an, nicht mehr leistungsfähig zu sein. Deshalb werden sie von der Gesellschaft und Wirtschaft auf ein Abschiebegleis gedrängt – ohne jegliches Angebot auf Teilzeit- oder Schonarbeitsplätze zur Reintegration. Daraus resultiert, dass es sozial verträglicher scheint, wegen seines Rückenschmerzes berentet zu werden, als jahrelang arbeitslos zu sein. Hier schließt sich der Kreis zur Problematik Rückenschmerz und wird zur permanenten Bedrohung des sozialen Systems unter Ausbildung eines epidemischen Krankheitsbildes, wie es kein anderes Land in vergleichbarem Maße kennt. 

Schließlich kann festgestellt werden, dass es nicht nur eine Ursache für den Rückenschmerz gibt, sondern eine Fülle von ineinander greifenden Ursachen, die über Jahrzehnte hinweg gewirkt und aus dem Krankheitsbild ein allgemeines biopsychosoziales Problem gemacht haben. Auch unterschiedliche Strukturen und Behandlungsansätze der verschiedenen Gesellschaften in der Schmerztherapie haben dazu geführt, gute, geeignete und Erfolg versprechende Therapiewege zu verzögern oder gar zu verhindern. Die IGOST ist stets bemüht, als interdisziplinäre Gesellschaft die unterschiedlichen Ursachen der Erkrankung Rückenschmerz aufzudecken, die Behandlungswege zu verbessern, die Behandlungsstrukturen zu verfeinern und das Therapiemanagement zu stärken. Diese Aufgabe kann sie nur gemeinsam mit starken und verlässlichen Partnern angehen und bewältigen.


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3. Netzwerk „Integrierte Versorgung Rückenschmerz“ 

Im Rahmen der Vorstellung einer aktiven Schmerztherapie begrüßt die IGOST die Pläne der Bundesregierung und Krankenkassen zur Einführung einer elektronischen Patientenkarteikarte. Dabei sind selbstverständlich alle datenschutzrechtlichen Belange abzuklären. Es muss rechtlich abgesichert sein, dass Patienten- und Krankheitsdaten nur den zugangsberechtigten Behandlern zur Verfügung stehen und jegliche Möglichkeit des Missbrauchs ausgeschlossen ist. Die Patientenkarte bringt den Vorteil, alle relevanten Daten der Patienten, ihrer Lebensführung und durchgeführten Präventionsmaßnahmen, ihrer Vordiagnostik und Therapie sowie alle Daten der Therapiewege aufzuzeigen und standardisiert zu erfassen. Gerade beim Symptom Rückenschmerz ergibt sich daraus die Möglichkeit, neben einer gezielten Erfassung der Vorgeschichte und einem programmierten Untersuchungsgang des Rückens zur Erkennung der so genannten „Red“ oder „Orange flags“ zur weiteren operativen Intervention standardisierte Fragebögen einzusetzen, die frühzeitig eine Gefahr der Chronifizierung aufzeigen (s. Abb. 4a, b). 

Die Speicherung und Weitergabe der Daten könnte falsche Behandlungswege verhindern und zahlreiche Doppel- und Mehrfachuntersuchungen vermeiden. Mithilfe von Fragebögen wie dem vom BVO und der IGOST entwickelten Heidelberger Kurzfragebogen HKF-R10 „Rückenschmerz“ (s. Abb. 5a, b) können mit bis zu 80%iger Wahrscheinlichkeit Chronifizierungsvorgänge vorausgesehen und damit rechtzeitig gegensteuernde Maßnahmen ergriffen werden. 

Die IGOST unterstützt ebenfalls die Pläne der Bundesregierung zur baldigen Schaffung eines Präventionsgesetzes. Es sollte eine Früherziehung zur gesunden Lebensweise (Ernährung und Bewegung) unter Einbeziehung der Eltern schon im Kindergarten und in der Schule gefordert werden, aber auch die Vermittlung neuer Erkenntnisse aus der Schmerztherapie und insbesondere die Erlernung neuer Strategien zur Schmerzvermeidung und -bewältigung beinhalten. Es gibt eine Reihe von Präventionsmaßnahmen, basierend auf den Erkenntnissen der Rückenschule, die bereits in der Vergangenheit ihre Wirksamkeit unter Beweis gestellt haben. Ebenso sollten KindergärtnerInnen und LehrerInnen für dieses Thema sensibilisiert und deren Ausbildungsstand entsprechend angehoben werden.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch eine stärkere Einbindung der Eltern/Elternteile. Im Rahmen der Prävention sollte mehr auf die Umsetzung von bereits bestehenden Verordnungen für Schulmöbelausstattungen geachtet werden. Der Schulsport ist zu fördern, der Übergang in Breitensport und Vereinssport zu erleichtern und mit entsprechenden Anreizen auszustatten. Investitionen auf diesem Gebiet führen zu Einsparungen an Kosten für spätere Therapien. Die Prinzipien einer rückengerechten Lebensweise sind den schädigenden Verhaltensweisen im Alltag und im Beruf gegenüberzustellen – mit der Unterstützung, rückengerechte Arbeitsplätze zu finden und selbst zu gestalten. Dabei ist es sehr wichtig zu vermitteln, dass Zufriedenheit am Arbeitsplatz der entscheidende Faktor ist und Einfluss auf Fehlzeiten im späteren Berufsleben haben wird. Schon zu diesem Zeitpunkt sollten neben der Aufklärung und Wissensvermittlung und dem Schul- und Vereinssport Muskeltrainingsangebote für die rückenspezifische Muskulatur angeboten, gefördert und durchgeführt werden. Systeme wie das FPZ-Konzept mit wissenschaftlich fundierter Ausrichtung und fortgesetzter Kontrolle am Trainingsgerät sind hierbei zu bevorzugen. Damit wird der Übergang ins Berufsleben mit zunehmend sitzender Belastung erleichtert. Rückengerechtes Verhalten kann in der Kindheit und Jugend schon antrainiert werden und einen Selbstverständlichkeitsgrad „ähnlich dem Zähneputzen“ erreichen. 

In der Berufs- und Arbeitswelt müssen Arbeitgeber in allen Bereichen angehalten, geschult und verpflichtet werden, für die Gesundheit und Fitness ihrer Arbeitnehmer zu sorgen. Dies ist nicht nur eine soziale Verpflichtung gegenüber der Allgemeinheit, sondern auch ein Vorteil für jedes Unternehmen: Wenn sich Arbeitszufriedenheit und körperliche und geistige Leistungsfähigkeit erhöhen, werden Arbeitsfehlzeitenvermindert – ein ökonomisches Plus. Beispiele aus Japan, den USA und weiteren Ländern zeigen dies in eindrucksvoller Weise. Es muss gelingen, betriebseigene Institute aufzubauen, die mit Unterstützung des betriebsärztlichen Dienstes in der Lage sind, rückengerechtes Verhalten am Arbeitsplatz zu vermitteln, gleichzeitig psychologische Hilfestellung bei Arbeitsplatzproblemen anzubieten und gemeinsam mit Sozialdiensten Lösungen zu finden, um auch Mitarbeiter mittleren und höheren Alters in der Arbeitswelt zufrieden zu machen. Dadurch erscheint nach vollendetem Berufsleben eine Fortsetzung des erlernten Gesundheitsbewußtseins auch im Alter möglich; jedenfalls ist sie wünschenswert, um langfristige Pflege und Betreuung hinauszuzögern bzw. zu verhindern. 

Im Rahmen der Vorstellung einer aktiven Schmerztherapie unterstützt die IGOST ebenfalls die Bestrebungen der Bundesregierung und Krankenkassen zur Erstellung einer Integrierten Versorgungsstruktur Rückenschmerz und zur Förderung Medizinischer Versorgungszentren (MVZ) Rückenschmerz. Die IGOST hat hierzu eigene Verträge und Behandlungskonzepte entwickelt, die interdisziplinär und mit Partnern wie dem FPZ geplant und durchgeführt werden, da sie die größte Chance bieten, erfolgreich zu wirken. Solange jedoch das alte System parallel neben den neuen Systemen der Integrierten Versorgung angeboten wird und für die Patienten nach freiwilliger Teilnahme an der Integrierten Versorgung eine Rückkehr in die alten, nicht strukturierten Behandlungswege möglich ist, erscheint ein Einsparpotenzial der neuen Systeme fraglich und begrenzt. Zurzeit verursachen 75% der Rückenschmerzpatienten 5% der Behandlungskosten, 20% verursachen 60% der Kosten, und nur 5% der Patienten mit chronischen Rückenbeschwerden haben den hohen Kostenanteil von 35% der Kosten. Das bedeutet: 25% der Rückenpatienten verursachen insgesamt 95% der Kosten und Folgekosten. Dieses Verhältnis muss mit der Integrierten Versorgung Rückenschmerz deutlich verändert werden. Hierzu hat für die Integrierte Versorgung Rückenschmerz grundsätzlich zu gelten (und sollte als Eckwert jedes Vertrages Grundlage sein):

  • Die Integrierte Versorgung dient dem Patienten. Sie muss für ihn zu einer wesentlichen und eindeutigen Verbesserung seiner Versorgungssituation führen, die sich nicht allein auf eine Verkürzung der Behandlungstermine beschränkt.
  • Integrationsmodelle eignen sich im Besonderen bei schweren Krankheitsbildern mit chronischem Verlauf und der Notwendigkeit interdisziplinärer Behandlung bei genügend großer Patientenzahl.
  • Integrationsmodelle müssen grundsätzlich fachübergreifend angelegt sein und ambulante und stationäre Therapien verbinden.
  • Integrationsverträge sollten unabhängig von kassenärztlichen Vereinigungen abgeschlossen werden sowie unabhängig von alten Versorgungssystemen sein.
  • Die Integrationsversorgung sollte stufenweise die Regelversorgung ablösen und ersetzen.
  • Weitere Kostenträger und Versicherungszweige wie Pflege-, Renten- und Unfallversicherungsträger müssen stufenweise in die Konzepte der Integrationsversorgung eingebunden werden.
  • Von allen Vertragspartnern der Integrierten Versorgung müssen gemeinsame Qualitätsstandards auf der Basis gesicherter und evaluierter Erkenntnisse der Behandlung vereinbart werden.
  • Modelle der Integrationsversorgung müssen wissenschaftlich evaluiert sein und durch ihre Dokumentation und Datenerfassung wirtschaftlich kalkulierbar werden.
  • In die Integrierte Versorgung sollen alle Innovationen einbezogen werden, um eine schnelle und kostengünstige Übernahme sinnvoller Neuerungen zu gewährleisten.

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Diese Eckpunkte und Grundregeln jeglicher Integrierten Versorgung müssen in die Behandlungsmethodik und -wege eines Versorgungsmodells Rückenschmerz umgesetzt werden und ebenfalls in die entsprechenden Verträge eingearbeitet werden. 

Das aktive Modell der IGOST beinhaltet 3 Behandlungsebenen: die Erst-, Zweit- und Drittbehandlungsebene mit jeweils bestehenden Haus- und Facharztstrukturen sowie interdisziplinären Einrichtungen. Die Schnittstellen zwischen den Ebenen sind genau zu definieren und die zeitlichen und faktischen Übergangsregelungen festzulegen. Alle Behandlungsebenen unterliegen einer fachlichen und qualitativen Kontrolle ihrer Behandlung und Dokumentation und verpflichten sich zu einer jährlichen kontinuierlichen Aus- und Weiterbildung im System. Zur Einrichtung dieses Systems hält die IGOST die Erschaffung einer bundesweiten Einrichtung für erforderlich, die:

  • die vertraglichen und strukturellen Voraussetzungen schafft,
  • die Aus- und Weiterbildungen organisiert,
  • das Abrechnungssystem installiert und
  • die regionalen Leistungserbringer/Verbände vor Ort einrichtet und unterstützt.

Als Mitbetreiber dieser bundesweiten Einrichtung wünscht sich die IGOST eine oder mehrere Krankenkassen zur Mitverantwortung für die Bewältigung des Krankheitsrisikos, eine Gesellschaft wie das FPZ, das wissenschaftlich fundiert im Rahmen der Prävention und in der Therapie Rückenmuskelaufbauprogramme bereits seit Jahren beherrscht, und einen verantwortungsbewussten Partner aus der Pharmaindustrie für eine rationelle medikamentöse Therapie. Das Vertragswerk ist durch einen kompetenten rechtlichen Vertreter zu erarbeiten und zu betreuen, das Gesamtkonzept ist durch eine professionelle Gesellschaft zu vermarkten. 

Die IGOST gewährleistet die Aus- und Weiterbildung sowie die Zertifizierung der Behandlungsebenen und stellt durch ihre Mitglieder, die die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen, einen Teil der regionalen Zentren vor Ort in den einzelnen Behandlungsebenen. Dabei kann ein Orthopäde sowohl in der Erst- als auch in der Zweitbehandlungsebene arbeiten oder, wenn er die Voraussetzungen bietet, als Case-Manager eines interdisziplinären Systems leitend tätig sein. Diese regionalen Leistungserbringer/Verbände können und sollen als Praxisverbund agieren und in ihren Bereichen interdisziplinär kommunizieren. In allen Behandlungsebenen ist sicherzustellen, dass die „Red, Orange und Yellow flags“ des Rückenschmerzes abgefragt, untersucht, dokumentiert und in die Behandlungswege eingebracht werden. 

Studien aus England ist zu entnehmen, dass in ca. 60% der Fälle auch schwere neurologische Ausfälle, wie z.B. eine Reithosenanästhesie, nicht durch den erstuntersuchenden Primärarzt festgestellt werden und dass durch eine verzögerte operative Maßnahme oder unterlassene Operation erhebliche Folgekosten verursacht werden. Dies muss in einem neuen System auf alle Fälle unterbunden werden. Beim Auftreten von Red flags muss gewährleistet sein, dass in allen Behandlungsebenen eine Vorstellung des Patienten in einem operativen Zentrum innerhalb von 48 Stunden erfolgen wird (s. Tab. 1). 

Das Auftreten von Orange flags in der Anamnese oder im Befund muss die Erst- oder die Zweitbehandlungsebene dazu veranlassen, in vorgegebener Zeit den Patienten an die Drittbehandlungsebene zu überstellen, um eine interdisziplinäre Abklärung und Therapie durchzuführen und bei dem Verdacht auf erhebliche Grunderkrankungen eine Multimorbidität und Chronifizierung zu verhindern. Das Auftreten von Yellowflags aus dem Ergebnis des Fragebogens HKF- R10 Rückenschmerz signalisiert zu 80% die Gefahr einer Frühchronifizierung und muss bereits in der ersten Behandlungsebene abgefragt werden. Bei einer Auffälligkeit muss der Patient zeitnah an die Zweit- oder Drittbehandlungsebene nach den Vertragsbedingungen übergeben werden, um Folgeschäden und Chronifizierung zu vermeiden. Beim Übergang zur zweiten Behandlungsebene wegen Krankheitsverschlechterung muss der HKF-R-10-Rückenschmerz-Fragebogen wiederholt und überprüft werden. Die Methodik dieser Behandlungswege ist durch die IGOST schon vor Jahren entwickelt worden und hatte auch im alten Versorgungssystem ihre Gültigkeit, wurde jedoch praktisch zu wenig umgesetzt und konnte in der zeitlichen Folge nicht überprüft werden. Im Rahmen der Integrierten Versorgung Rückenschmerz sind nun die Behandlungswege zeitlich und inhaltlich zuzuordnen. Im Folgenden soll deshalb der IGOST-Algorithmus Rückenschmerznoch einmal dargestellt werden (s. Abb. 1). 

Abb. 1: IGOST Algorithmus Rückenschmerz

Der Behandlungsablauf und die Methodik der Integrationsbehandlung beginnt mit dem Tag 1 des Erscheinens des Patienten im System und dem Tag 0 der Arbeitsunfähigkeit in der 1. Behandlungsebene. Der Erstbehandler sollte v.a. in seiner Hausarztfunktion den Patienten nach entsprechender Beratung und Aufklärung auf freiwilliger Basis in das System integrieren. Die entsprechende Beitrittserklärung ist vom Patienten zu unterzeichnen und wird Bestandteil des Gesamtvertrages. Die Integration kann ebenfalls auf der Facharztebene und der Ebene eines Ärztenetzes erfolgen, wenn diese am System beteiligt sind. Die Behandlerqualifikation wird durch das System und die Zertifizierungkriterien der IGOST gewährleistet. Die Erstdokumentationerfolgt durch (Abb. 2.a-f.1):

  • Patientenfragebogen
  • Erstbehandlerbogen
  • HKF-R-10-Rückenschmerz- Fragebogen
  • qualifizierte Erstuntersuchung

  


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Abb.2a.1: Erstdokumentation

Abb. 2b.1: Erstdokumentation

Abb. 2c.1: Erstdokumentation

Abb. 2d.1: Erstdokumentation

Abb. 2e.1: Erstdokumentation

Abb. 2f.1: Erstdokumentation


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Abb. 3a: HKF-R 10 

Abb. 3a: HKF-R-10 

Abb.3b: Auswertung d.HKF-R10

 

Tab. 3.1: Red und Orange flags


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Beim Auftreten von Red flags und dem Verdacht auf schwere neurologische Schäden ist zu gewährleisten, dass der Patient innerhalb von 48 Stunden einer operativen Einrichtung zugeführt wird. Beim Auftreten von Orange flags und dem Verdacht auf schwere Grunderkrankungen ist zu gewährleisten, dass der Patient innerhalb von zwei Arbeitstagen der Behandlungsebene 3 des Systems überstellt wird. Beim Auftreten von Yellow flagsaus dem HKF-R-10-Rückenschmerz-Fragebogen ist zu gewährleisten, dass der Patient innerhalb einer Woche nach Kennzeichnung in die Behandlungsebene 2 des Systems kommt, um eine Frühchronifizierung zu verhindern. Sind keine Kriterien dieser Art zu finden, erfolgt die Therapie in der 1. Behandlungsebene nach den Behandlungskriterien der DEGAM-Leitlinien. Kann hierdurch in 28 Behandlungstagen bei einer maximalen Arbeitsunfähigkeit von 14 Tagen eine Restitutio ad integrum erreicht werden, ist der Patient aus der Integrierten Versorgung zu entlassen. Bei einer Überschreitung der Fristen ohne Heilung, einer Verschlechterung des Befundes, beim Auftreten von Red, Orange oder Yellow flags im Behandlungszeitraum und bei einer unklaren Behandlungsdiagnose ist zu intervenieren und der Patient unter Einhaltung der vorgeschriebenen Zeiträume an die jeweils definierte Behandlungsebene zu übermitteln. Hierbei besteht eine jeweilige Berichtspflicht an die nächste Behandlungsebene mit der Überstellung der Dokumentation, der Behandlungsdiagnose, den Befunden, dem Verlauf der Erkrankung sowie der erfolgten Therapie und Medikation. 

Die 2. Behandlungsebene beginnt mit dem Tag 28 im System oder dem Tag 14 der Arbeitsunfähigkeit. Diese Zweitbehandlungsebene ist primär die fachspezifische Ebene und wird durch den qualifizierten Orthopäden, Neurologen, Psychiater oder Facharzt der Nervenheilkunde repräsentiert. Die Behandlerqualifikation wird durch das System und die Zertifizierung der IGOST gewährleistet. Es erfolgt eine entsprechende Zweitdokumentation durch den Zweitbehandlerbogen und die erneute Überprüfung des HKF-R-10- Rückenschmerz-Fragebogens (Abb. 4a-g.2).

Abb. 4a.2: Zweitdokumentation

Abb. 4b.2: Zweitdokumentation/ Befund 1

Abb. 4c.2: Zweitdokumentation / Befund 2

Abb. 4d.2: Zweitdokumentation

Abb. 4e.2: Zweitdokumentation

Abb. 4f.2: Zweitdokumentation

Abb. 4g.2: Zweitdokumentation


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Auch in der Zweitbehandlungsebene ist zu garantieren, dass bei einem Auftreten von nunmehr Orange oder Red flags die entsprechenden Schritte in der zeitlich festgesetzten Form zur Überstellung des Patienten in die Drittbehandlungsebene oder in den operativen Bereich vollzogen werden. Die Therapie in der zweiten Behandlungsebene erfolgt durch eine fachspezifische Diagnostik ggf. unter Einbeziehung – konsiliarisch, diagnostisch und therapeutisch – anderer und weiterer Fachgebiete, wie z.B. der Rheumatologie, Anästhesie, Psychotherapie, der erweiterten Radiologie, Gynäkologie, Inneren Medizin, Onkologie, Angiologie, Urologie, Zahnheilkunde oder Pulmologie. Es erfolgt eine Wertung der vorbestehenden Befunde und Konsilien unter leitliniengerechter Behandlung und Durchführung therapeutischer Maßnahmen nach persönlicher Qualifikation. Gelingt bis zum Tag 56 im System der Behandlung oder bis zum Tag 28 der Arbeitsunfähigkeit eine Ausheilung der Erkrankung, ist der Patient aus dem Integrationsmodell zu entlassen. Bei einer Überschreitung dieser Zeiträume ohne Heilung, einer Verschlechterung des Befundes, einer neuerlichen Entwicklung von Orange oder Red flags und bei einer weiteren unklaren Behandlungsdiagnose ist auch in der Zweitbehandlungsebene sofort zu intervenieren und der Patient entweder in 48 Stunden an ein operatives Zentrum oder in der Frist von 2 Arbeitstagen der 3. Behandlungsebene zu überweisen. Auch in diesem Fall besteht eine entsprechende Berichtspflicht mit der Übermittlung der vorliegenden Dokumentation, Behandlungsdiagnose, Befunde, dem Verlauf und der durchgeführten Therapie. 

Die 3. Behandlungsebene beginnt mit dem Tag 56 der Therapie oder dem Tag 28 der Arbeitsunfähigkeit. Die Drittbehandlungsebene wird durch eine multimodale schmerztherapeutische Einrichtung als ambulante Einrichtung dargestellt. Es besteht die Möglichkeit, beim Fehlen ambulanter Einrichtungen auch qualifizierte stationäre Einrichtungen in ein bestehendes Integrationsmodell einzubinden. Diese Ebene ist als interdisziplinäre Ebene mit festgelegter Abklärung und Therapie zu organisieren. Die Behandlerqualifikation ergibt sich aus Praxisverbänden oder Medizinischen Versorgungszentren mit einer schmerztherapeutischen Qualifizierung, Zertifizierung und Re- Zertifizierung unter regelmäßiger interdisziplinärer Kommunikation und Behandlungskontrolle am Patienten. Die Eingangskriterien ergeben sich aus den Behandlungswegen des Integrationsmodells oder nach Vorstellung und auf Veranlassung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK). Die Diagnostik umfasst erneut die Abklärung von Red flags mit der Notwendigkeit der Überstellung in ein operatives Zentrum innerhalb von 48 Stunden. Die Diagnostik wird ergänzt durch:

  • Stadieneinteilung nach Gerbershagen
  • standardisiertes Schmerzinventar
  • interdisziplinäre Abklärung mit interdisziplinärer Schmerzkonferenz
  • psychotherapeutische Abklärung und entsprechende Therapie
  • Ergebnisprotokolle mit Behandlungsvorgaben

Das Therapiemanagement umfasst einen gemeinsamen Behandlungsplan, die Festlegung eines Case-Managers (CM) und einen zeitlichen Stufenplan zur Befund- und Diagnosenprüfung (s. Abb. 5). Eine kurzfristige, erneute Vorstellung beim CM ist jederzeit zu gewährleisten. Der Case-Manager garantiert eine schnelle Einbindung von geeigneten Mitbehandlern. Die Beteiligung des MDK bei klarem Rentenwunsch und eine Prognoseabschätzung über den Wahrscheinlichkeitsgrad der Wiedereintrittsfähigkeit ins Arbeitsleben ist sicherzustellen. Ebenfalls sollte ein Sozialdienst, ein qualifizierter Kassenmitarbeiter und die Rentenversicherung einbezogen werden, um jahrelange Rentenkarrieren zu vermeiden. Hier liegt die Schnittstelle zu einer gezielten Einbeziehung stationärer Einrichtungen bei primärer ambulanter Therapie in der Indikationsstellung zur teilstationären oder vollstationären Behandlung. Bei der Behandlung ist eine Re-Evaluation mit einer Falldiskussion aller Behandler mit einer Besprechung des Therapieplans unter Einbeziehung eines Qualitätszirkels vorzugeben; dies sollte aber jederzeit mit und am Patienten geschehen, nicht in einer anonymen Schmerzkonferenz über den Patienten hinweg. Im Rahmen der Zweit- und Drittbehandlungsebene ist es erforderlich, ein standardisiertes Muskelaufbautraining unter objektivierbarer Erfolgskontrolle – wie das FPZ-Programm – zu integrieren. 

Dieses obligate Muskelaufbautraining muss auch nach einer notwendigen operativen Intervention gesichert und fester Bestandteil einer postoperativen Rehabilitation sein. Der Behandlungszeitraum für die 3. Behandlungsebene sollte mit 4 Wochen zeitlich begrenzt sein. Tritt auch in diesem Zeitraum keine Restitutio ad integrum ein, muss das Vollbild einer multimorbiden und chronischen Schmerzkrankheit mit erheblicher psychischer Komorbidität festgestellt werden. Der Patient ist aus dem Integrationsmodell Rückenschmerz zu entlassen. Dies stellt ein wesentliches Eingangskriterium für die Durchführung einer stationären multimodalen Therapie dar, jedoch ohne weitere Diagnostik und erneute Durchführung bereits erfolgter Therapien. In solchen Fällen sollte eine stationäre Aufnahme innerhalb von 4 Wochen möglich sein, natürlich mit der Berichtspflicht der Behandlungsebene 3 und Übersendung aller vorliegenden Befunde, des gesamten Krankheitsverlaufs und allen bereits durchgeführten Therapien.

Abb. 5a: Behandlungsablauf 


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Abb. 5b: Behandlungsablauf 

Abb. 5c: Behandlungsablauf 

Abb. 5d: Behandlungsablauf 

Abb. 5e: Behandlungsablauf 


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Vor einer Indikationsstellung zu einem operativen Verfahren in den genannten Fällen empfiehlt die IGOST die Durchführung der Evaluation der psychischen Situation des Patienten mithilfe des Fragebogens von Frau Prof. Monika Hasenbring (Bochum) und außerdem die Überprüfung durch eine Second opinion in der 3. Behandlungsebene in einem Zeitraum von 2 bis 4 Tagen vor der geplanten Operation. 

Durch das Integrationsmodell Rückenschmerz und das genannte Vorgehen vor einer Operation ist es mit Sicherheit möglich, die Zahl der Wirbelsäulenoperationen in Deutschland deutlich zu verringern.

4. Zusammenfassung 

Die aktive Schmerztherapie der IGOST im Rahmen des Modells Integrierte Versorgung Rückenschmerz – in Zusammenarbeit mit kompetenten Partnern – stellt eine deutliche Selektion der Wirbelsäulenerkrankten und der Behandler im System dar.

Die Versorgungsziele der Therapie und des Vertrages sind insbesondere:

  • Vermeidung und Durchbrechung der Chronifizierung von Rückenschmerzen
  • Verhinderung von Operationen und Krankenhausaufhalten
  • Verhinderung von Schmerzmittelmissbrauch
  • Steigerung der Lebensfreude und der Lebensqualität des Patienten
  • Erhaltung der beruflichen Leistungsfähigkeit
  • soziale Reintegration der Betroffenen

Um die Ziele zu erreichen, erfolgen:

  • Identifizierung speziell chronifizierungsfördernder Einflüsse auf somatischer, psychischer und sozialer Ebene
  • effektiver Umgang mit diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen
  • Vermeidung von Doppeluntersuchungen und Therapien

Das Konzept beinhaltet:

  • Konzentration auf intensive Maßnahmen für Patienten mit prognostisch günstigen Voraussetzungen
  • Vermeidung intensiver Ressourcenverwendung bei prognostisch ungünstigen Voraussetzungen

Dabei sollte gewährleistet sein, dass jeder Patient bereit ist, aktiv an seiner Gesundung mitzuarbeiten, auch und insbesondere durch entsprechende Muskelaufbautrainingsprogramme wie das FPZ-Konzept. 

Die Integrationsversorgung Rückenschmerz folgt einem klaren medizinischen und organisatorischen Ablaufschema, das auf den Behandlungspfaden der DEGAM- Leitlinien, der Leitlinien der IGOST, des BVO, der DGOOC sowie der Empfehlung der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft basiert. Die teilnehmenden Vertragspartner und Behandler verpflichten sich, die Behandlungspfade und die organisatorischen Maßnahmen einzuhalten, eine vertragsgerechte Dokumentation zu erstellen und besonders die Qualifikation und Fortbildung zu gewährleisten. 

Unter den derzeit bestehenden gesundheitspolitischen Voraussetzungen ist es sicher nicht sofort möglich, alle Teilnehmer des bestehenden Systems in dieses Modell zu integrieren, aber bereits eine stufenweise Erstellung und Ausweitung von regionalen Zentren in Deutschland wäre in der Lage, die Versorgungssituation der Volkskrankheit Rückenschmerz zu verbessern und massiv Behandlungskosten zu reduzieren. Die IGOST ist und bleibt bemüht, ihre aktive Therapie bei der Behandlung von Rückenschmerzen fortzusetzen.


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