Pädagogische Ansätze in der Behandlung von Rückenschmerzpatienten


Wulfram Harter

Und eine Frau sagte: Sprich uns vom Schmerz. 

Und er antwortete: Euer Schmerz ist das Zerbrechen der Schale, die euer Verstehen umschließt

[...]

Und könntet ihr in eurem Herzen das Staunen über die täglichen Dinge des Lebens bewahren, würde euch der Schmerz nicht weniger wundersam scheinen als die Freude; [...] 

[Khalil Gibran (1883–1931), aus: Vom Schmerz]

 

Vorbemerkung 

Der nachfolgende Text soll Anregungen bieten, den Umgang mit Patienten, die unter chronischen Rückenschmerzen leiden, zu reflektieren. Manchmal sind es kleine Begebenheiten, durch die ein Therapieverlauf innerhalb einer Trainingstherapie erschwert wird. Hier geht es vor allem darum, typische Situationen zu vermeiden, in denen unreflektierte Interaktionen den Therapieverlauf erschweren. Manchmal genügen wenige geschickte pädagogische Strategien, um dem Therapieverlauf eine positive Richtung zu geben.

 

Einleitung 

Das Problem chronischer Rückenbeschwerden hat nicht zuletzt durch eine Vielzahl von Untersuchungen einen entscheidenden Paradigmenwechsel erlebt [Wiesel et al. 1984; Boden et al. 1994]. War es bisher so, dass die Beschwerden aus organischen Veränderungen beurteilt wurden, so zeigen eine Anzahl von Studien seit den Arbeiten von Melzack und Wall die kognitiv/emotionellen Dimensionen von Schmerzen [Melzack, Wall 1965; Chapman 1985]. Seither beschäftigt dieses Problem inzwischen als biopsychosoziale Fragestellung immer mehr Fachdisziplinen. 

 

Zahlreiche psychologische Modelle veranschaulichen Lernprozesse auf kognitiver Ebene. Im Laufe der Chronifizierung beeinträchtigen die erlernten Verhaltensweisen den Patienten immer mehr. Dabei stellt Beeinträchtigung nicht unbedingt eine korrekte Wortwahl dar, da es sich letztlich um den Anpassungsprozess des Patienten an eine durch Verletzung/Schmerz veränderte Lebenssituation handelt. Daher ist es sinnvoller, in dem Fall von Anpassung zu sprechen und damit einen wichtigen Wechsel der Blickrichtung zu vollziehen. 

 

Selbstverständlich müssen auf der einen Seite physiologische Aspekte, degenerative Veränderungen, objektive funktionelle Störungen, aber auch Merkmale der primären und sekundären Hyperalgesie innerhalb der Lernprozesse Beachtung finden. Auf der anderen Seite ist die Ausprägung der Anpassungs- und Copingmechanismenderart vielfältig und variant, dass man auch von sehr individuellen und persönlichen Strategien ausgehen muss, bei denen die psychosozialen Faktoren eine wichtige Funktion besitzen [Frymoyer 1992]. Diese persönlichen Aspekte, insbesondere beeinflusst durch die gesamten sozialen Umstände, spielen innerhalb des Chronifizierungsprozesses eine wichtige Rolle. Die Varianz reicht dabei von Menschen, die sich trotz teilweise schwersten degenerativen/ organischen Veränderungen nicht beeinträchtigen lassen und nicht in die Chronifizierung gelangen, bis hin zu Menschen, die keine medizinisch erkennbaren Schädigungen zeigen und trotzdem schwer chronifizieren. Innerhalb dieses Spannungsbogens (s. Abb. 1) zwischen 

 

  • keine organischen Schäden (+) 
  • schwerste organische Schäden (–) 
  • keinepsychische Beteiligung (+) 
  • psychische Beteiligung (–) 
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positioniert sich der Patient. 

 

Abb. 1: Die Dimensionen der Chronifizierung

 

Der Patient benötigt nicht immer eine Psychotherapie. Es sollte aber zu jeder Zeit und v.a. von jedem beteiligten Arzt/Therapeuten die Beachtung der emotionellen/ kognitiven Dimension, die Copingstrategien des Patienten, eine Rolle spielen. Die individuelle Schmerzverarbeitung ist von Beginn einer Verletzung/Erkrankung an auf allen Ebenen, von der Nozizeption bis zur Bewusstwerdung in den subkortikalen und kortikalen Strukturen, von entscheidender Bedeutung. 

 

Diese Artikel soll nicht wissenschaftlich argumentieren, sondern dazu anregen, bei der Betrachtung des gesamten Menschen den Blickwinkel zu ändern und aus dieser Perspektive zu einer therapeutisch definierten Handlung zu gelangen, ohne aber die Handlungen unreflektiert geschehen zu lassen. Dazu gehört, die Fragen des Warum neu zu stellen und die Erkenntnisse über den chronischen (Rücken-) Schmerz der letzten Jahre in den therapeutischen Kontext unter pädagogischen Gesichtspunkten mit einzubeziehen. Im Umgang mit dem Menschen/ Patienten können somit neue Antworten auf die Fragen gefunden werden. 

 

Die Einzigartigkeit des Patienten – Provokation eines neuen Blickwinkels 

 

Jeder Patient ist ein Unikat! Ist die Entwicklung, die ein chronischer Rückenschmerzpatient nimmt, eigentlich pathologisch? Ursprünglich liegen allen inzwischen bekannten physiologischen und psychologischen Mechanismen, die innerhalb von Chronifizierungsprozesseneine Rolle spielen, natürliche Reflexe und Verhaltensweisen zugrunde. Erst im weiteren Verlauf einer Chronifizierung werden sie pathologisch. Die Prozesse, die zur primären und sekundären Hyperalgesie führen, sind ursprünglich Mechanismen, die unseren in freier Natur lebenden Vorfahren das Überleben sicherten, z.B.: 

 

  • Vermehrung der NMDA-Rezeptoren an den betroffenen Axonen 
  • schmerzverstärkende Mechanismen der Neuroplastizität in den WDR- Hinterhornneuronen 
  • kortikale und subkortikale Prozesse in der topischen Abbildung betroffener Areale 

 

Irgendwann innerhalb der Schmerzchronifizierung werden die physiologischen sowie die kognitiv/emotionellen Prozesse pathologisch. So entwickeln auch ursprünglich positive, schützende schmerzfensive Reflexe und das Erlernen von Verhaltensmechanismen, die vor erlebten oder auch nur beschriebenen bedrohlichen Situationen bewahren [Kronshage 2001], pathologische Dimensionen. 

 

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Der Australopithecus robustus (Hominide vor ca. 1,5 Mio. Jahren) machte sich keine Gedanken über Verhaltens- und Verhältnisprävention. Er sorgte sich darum, wenn er einen Bandscheibenvorfall mit radikulärer Symptomatik erlitten hatte, solange in der Rekonvaleszenz zu verweilen, bis die Verletzung ausheilte. Er musste jedoch so bald wie möglich wieder in Bewegung kommen, sonst wäre er verhungert. Diese Darstellung ist vielleicht etwas polarisierend, trifft aber im Kern ein Stück der Wahrheit. Es mag dem einen oder anderen damals nicht gut bekommen sein, wenn er – unter dem Einfluss einer radikulären Symptomatik – dem Appetit eines Säbelzahntigers zu entkommen versuchte. Letzten Endes aber war er gezwungen, seine körperlichen Fähigkeiten schnell wiederzuerlangen, seine Motivation war eindeutig. Aber auch seine Interaktion mit seiner Umwelt und den Angehörigen seiner Horde war nicht so komplex wie die des heutigen Menschen.

 

Aspekte der Interaktion

 

„Nach meiner Ansicht bedeutet ein Objekt zu erkennen nicht, es abzubilden, sondern, auf es einzuwirken. […] Die Intelligenz organisiert die Welt, indem sie sich selbst organisiert.“ [Piaget 1968] 

 

Piaget (1896–1980), Begründer der modernen Pädagogik, beschrieb Entwicklungsprozesse beim Menschen aus einer Vorstellung der Homöostase heraus. Der Mensch versucht immer, das universelle Gleichgewicht in sich herzustellen. Eine progressive Entwicklung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass das System Mensch eine Störung erfährt, um dann, in einem Stadium einer höheren Ordnung, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Diesen Prozess beschrieb er als Akkommodation. In Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung des Menschen bedeutet Akkommodation (lat. accommodare: anpassen) die Anpassung im Denken und Handeln an die Bedingungen der Umwelt. Die Akkommodation steht aufgrund der kognitiven Fähigkeit des Menschen zur Assimilation von Umweltgegebenheiten an seine vorhandenen Denk- und Handlungsstrukturen in einer Wechselwirkung mit der Umwelt [Schaub, Zenke 2004]. Das bedeutet schließlich, dass der Mensch jederzeit eine Anpassung der erworbenen kognitiven Konzepte an neue pragmatische Gegebenheiten sucht [Schulmeister 1996]. Die Situation des Menschen mit chronischen Rückenbe- schwerden lässt sich demnach in einem einfachen Modell visualisieren (s. Abb. 2). Im Gegensatz zum akuten Schmerz, der plötzlich und von außen auf den Menschen eintrifft, ist der chronische Schmerz ein Teil des Systems geworden. Mit der Aussage: „Ach wissen Sie, man hat sich daran gewöhnt“, die jeder Arzt/Therapeut aus der Praxis kennt, lässt der Patient sein Arrangement mit den Beschwerden erkennen. Gleichzeitig organisieren chronische Schmerzpatienten mithilfe ihres sozialen Umfelds (Familie, Arbeit etc.) ihr Leben mit dem Schmerz [Hildebrandt, Pfingsten, Saur 1996]. Die auf dem Tablett (s. Abb. 2) sorgfältig ausbalancierten Pakete stellen die für den Patienten relevanten individuellen Bedingungen dar, die mehr oder weniger stark miteinander in Verbindung stehen: 

 

  • (Beziehung zum) Arbeitsplatz 
  • Partnerschaft 
  • soziale Beziehungen 
  • Schmerz 
  • Freizeit 
  • etc. 

 

Abb.2: Gleichgewichts- Modell des systemischen individuellen Gesamtkonzepts 

 

Der Schmerz ist in diesem System "Mensch mit chronischen Rückenbeschwerden“ ein integrativer Bestandteil geworden! Der Patient hat alle Pakete derart angeordnet, dass er sich in einem relativen Gleichgewicht befindet. Die Gesamtheit der Pakete im Gleichgewicht sind demnach auch als Abbildung des individuellen Gesamtkonzeptes, eines Selbstbewusstseins- oder Würdekonzeptes, interpretierbar. Auf jede Veränderung – in diesem Fall Verschiebung – eines dieser Persönlichkeitspakete muss der Mensch reagieren. Er versucht nun seinerseits mithilfe seiner angeborenen und/oder erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten (dargestellt durch die Pfeile) wieder einen Zustand des relativen Gleichgewichts zu erlangen. Gleichzeitig unterliegen die dafür benötigten Fertigkeiten/ Verhaltensmechanismen dabei spezifischen Lernprozessen. Jede Veränderung führt zu einer Störung dieses individuell mehr oder weniger labilen Gleichgewichts, auf die das komplexe System Mensch mit Anpassung reagiert (Akkommodation). Die Wiederherstellung des Gleichgewichts muss der Mensch mithilfe von stabilisierenden Strategien durchführen. Nun hat der Schmerz eine unangenehme Eigenschaft: Er tut weh. 

 

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Der Schmerz ist eine unangenehme Sinnesempfindung, die vor einer Schädigung oder der Möglichkeit einer Schädigung warnt.  [Definition der IASP]

 

Der Mensch mit chronischen Rückenbeschwerden befindet sich damit in einem klassischen Dilemma: Einerseits hat er jahrelang Strategien entwickelt, sein Leben trotz und mit dem Schmerz immer wieder in ein relatives Gleichgewicht zu bringen. Andererseits ist er – man nennt dies Therapie- oder Doctorhopping – auf der ständigen Suche nach der Befreiung von seinen Beschwerden. Seine Zwangslage äußert sich darin, dass er jedes Mal auf einen neuen Arzt/Therapeuten zutritt und bittet, er möge ihn vom Schmerz befreien, während dieser auf ihn eingeht und antwortet, er befreie ihn von seinem Schmerz. Diese Zusicherung aber ist, obwohl wohlwollend und fürsorglich, auch eine Bedrohung für den Patienten, denn gleichzeitig „bedroht“ der Therapeut das sorgfältig ausbalancierte System. Hierzu folgt ein Fallbeispiel aus einer Schmerzambulanz: 

 

Eine Patientin, Alter Mitte fünfzig, verheiratet, 3 erwachsene Söhne, im multimorbiden Zustand. In der Vorgeschichte wurde die Diagnose Fibromyalgie gestellt. Sie war von schlichtem Gemüt und bot eine heftige Sozialanamnese mit Gewalt in der Familie. Die Patientin galt nach vielen Therapieversuchen als austherapiert. Innerhalb einer ambulanten Therapie scheiterte jeder Versuch aller beteiligten Therapeuten (Ärzte, Psychologen, Trainingstherapeuten, Krankengymnasten), überhaupt Zugang zu ihr zu erhalten. Bei praktisch jedem Versuch einer therapeutischen Intervention dekompensierte die Patientin. Die Diskussion im Team führte zu der Erkenntnis, dass ihre Erkrankung, wie bei vielen chronifizierten Patienten, ein zentrles Merkmal Ihres Selbstbewusstseins – eines Würdekonzeptes – darstellte: Bei ihr stand nur ein riesiges Paket auf dem Tablett: Schmerz. Folgt man der Arbeitshypothese, so musste jede therapeutische Intervention instinktiv von ihr abgewehrt werden, denn sie bedrohte ihre gesamte personelle Integrität. Folglich konnte die Patientin erst dann therapeutische Hilfe annehmen, als sie ein neues Würdekonzept entwickelt hatte, was im Rahmen einer Psychotherapie stattfand. Danach konnte die Patientin auch andere Maßnahmen annehmen. 

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Nicht immer muss ein derart morbides Selbstkonzept durch psychologische Hilfe wie im beschriebenen Fall komplett neu entwickelt werden. Im therapeutischen Alltag ist es wichtig, zunächst das Handlungs- und Strategiekonzept des Patienten einfach zu akzeptieren. Da dies oft ignoriert wird, entwickelt der Patient seine spezifischen Interaktionsmuster (Transaktion) [Berne 1964]. Franz und Bautz haben solche Strategien und typischen Verhaltensmuster therapieresistenter Patienten dargestellt [Franz, Bautz 1999]. In ihrer Kritik an der eindimensionalen Interpretation Sternbachs [Sternbach1986] zu den „Pain games“ kann man die typischen Verhaltensmuster dieser Patienten aus ihrer Interaktion mit den unterschiedlichsten Therapeuten interpretieren. Der Patient möchte etwas erwirken und hat im Verlauf seiner Patientenkarriere sein Verhalten gegenüber den Therapeuten und dem System erlernt: 

 

  • "Sehen Sie, wie ich leide.“ (der Schmerzgequälte, der sofort Hilfe benötigt) 
  • "Sehen Sie, wie geduldig ich bin.“ (der Märtyrer, der bewundert werden möchte) 
  • "Sehen Sie, was Sie mir angetan haben.“ (der Ankläger, der andere für sein Leid verantwortlich macht) 
  • "Mir geht es trotzdem gut, es ist eigentlich nichts.“ (der Bagatellisierer) 
  • "Es ist mir ganz egal, was Sie mit mir machen, ich halte es aus.“ (der Leiderprobte, Tapfere) 
  • "Mir geht es schlecht! Bitte helfen Sie mir, ich habe Schmerzen! (Das können Sie aber nicht, weil ich ein komplizierter Fall bin.)“ (der Koryphäenkiller) 

 

Mit dem jeweiligen Verhaltensmuster hat der Patient gelernt, wie er seine Wünsche und Bedürfnisse erfüllt bekommt. Sie sind aber nicht nur für den Patienten, sondern auch für den Therapeuten spezifisch. 

 

Das Interaktionsverhalten des Patienten ist in einem langjährigen Prozess und einem Dreieck von Beziehungen zwischen Patient, Vertretern des medizinischen Systems und der Gesellschaft geschult worden. Innerhalb dieses Systems hat er auch seine Strategien erfolgreich trainiert. Er hat mit der einen oder anderen Strategie gelernt, wie er am besten sein Ziel, sein Bedürfnis nach Zuwendung, nach Erholung, Selbstfürsorge o.Ä. erreichen kann. Die Fertigkeit, solche Bedürfnisse direkt und in einer sozial verträglichen Weise zu artikulieren, hat der Patient oft nicht gelernt (oder sie ist ihm abhanden gekommen). Jeder Erfolg aber, in Hinsicht auf die oben beschriebenen Muster, hat sein Verhalten operant verstärkt und sein Modell stabilisiert. Häufig steht aber gerade dieses Modell der Reduktion der Beeinträchtigung entgegen. Es zeigt sich besonders in der Trainingstherapie. Innerhalb eines Wechselspiels von Übertragung und Gegenübertragung entstehen typische Beziehungsfallen. Ein unreflektiertes Verhalten des Therapeuten führt dabei unter Umständen wieder zu einer Verstärkung des pathologischen Patientenmodells.

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Die Beziehungsfalle! Typische Verhaltensmechanismen in der Trainingstherapie 

 

Zu einer Interaktion gehören stets mindestens zwei Personen! Die im vorigen Abschnitt genannten Aspekte lassen sich am besten an typischen Situationen veranschaulichen. Situation 1:  

 

Eine Patientin klagt über Verspannungen während des Trainings. Der Therapeut, ein junger Sportlehrer, meint zu ihr, dass es nicht so schlimm sei; wenn er selbst Verspannungen habe, mache er ein wenig Gymnastik und würde trainieren. Durch die vermehrte Durchblutung und Bewegung/Belastung würden sich seine Beschwerden dann lindern. Die Patientin entgegnet ihm: "Ach! Sie sind ja noch jung!“ oder: "Haben Sie erst einmal meine Schmerzen!“

 

Was läuft in der Kommunikation verkehrt? Ohne den medizinischen Hintergrund der Verspannungen zu hinterfragen, müssen zwei allgemeine Vorbemerkungen (s. die ersten beiden Punkte) dazu gemacht werden: 

 

  • In der Regel sind die mit der Trainingstherapie beauftragten Therapeuten Sportlehrer oder Physiotherapeuten. Meist haben sie – berufsbedingt – eine hohe, positive Affinität zu Bewegung und Belastung; die Begriffe und Inhalte von Bewegung und Belastung sind emotional positiv besetzt. 
  • Wenn der Therapeut Leistungssport treibt, so ist (physiologischer) Schmerz für ihn u.U. sogar ein positiver Aspekt. Mit dem Erreichen einer durch den physiologischen Schmerz markierten Leistungsgrenze erfährt er, dass er sein Trainingsziel erreicht hat.
  • Die Patientin dagegen hat, zumeist schon über Jahre hinweg, mit Bewegung/Belastung negative Erfahrungen gemacht. Sie hat gelernt, dass diese für sie Beschwerden und Schmerzen bedeuten. Die Begriffe und Inhalte von Bewegung und Belastung sind bei ihr emotional negativ besetzt. 
  • Die Patientin hat bei Verspannungen i.d.R. Schonung verordnet bekommen. Eine Äußerung ihrer Beschwerden der Familie gegenüber war ein geeignetes Mittel, um eine Erholungspause zu erlangen. Nein sagen hat sie nicht gelernt. Eigene Bedürfnisse formulieren ebenso wenig (vielleicht ist es ihr auch abtrainiert worden). Die verdeckten Ziele sind hier bedeutsam! 

 

Fazit: Die zwei Akteure kommunizieren syntaktisch über dieselben Begriffe, die aber auf emotionaler Ebene für beide völlig gegenteilige Bedeutungen haben. Der Therapeut versucht, sein eigenes, positives Bild zu übertragen und erzielt genau das Gegenteil bei der Patientin. Er erzeugt bei ihr ein negativ besetztes Bild. Gleichzeitig erklärt er ihr, das ihre bisherigen Strategien der Schonung und Entlastung unsinnig waren. Diese Form unterschwelliger Maßregelung begleiten viele Therapien. Man denke nur an gescheiterte Diätversuche, bei denen Ernährungsgewohnheiten und -vorlieben geradezu verteufelt werden. Die Äußerung der Patientin heißt nichts anderes als: "Du verstehst mich nicht!“ Dieser Versuch einer Intervention trägt ein hohes Risiko des Scheiterns in sich. Situation 2:  

 

Ein Patient hat gerade eine belastende Übung vollendet. Ohne sich verbal zu äußern, steht er zurückgezogen da und reibt sich mit schmerzhafter Gestik den Rücken (der Schmerzgequälte oder auch Leiderprobte, Tapfere). Der Therapeut kommt zu ihm und fragt mitfühlend, ob er Schmerzen habe und was er für ihn tun könne. Damit ist er in die Interaktionsfalle getappt. Das offizielle Ziel des Therapeuten und das verdeckte Ziel des Patienten gehen geradezu diametral auseinander. 

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Fazit: Der Therapeut möchte – im Sinne der Strategien der Trainingstherapie –, dass der Patient sich selbst helfen lernt, und der Patient möchte Zuwendung. Letzterer erreicht sein Ziel, weil das verdeckte Ziel des Therapeuten seine Fähigkeiten im Umgang mit schmerzbedingten Beschwerden zu beweisen ist. Damit deckt es sich mit dem Ziel des Patienten (Zuwendung). Die o.g. Verhaltensmuster aus den Pain games von Sternbach lassen sich dahingehend gut interpretieren. Therapeuten mit Helfersyndrom oder solche, die ihre Kompetenz unter Beweis stellen wollen, sind geradezu prädestiniert, die Verhaltensmuster der Patienten zu bestätigen/belohnen und damit nachhaltig zu verstärken (demonstrativ Schmerzgequälter, Märtyrer, Koryphäenkiller). Situation 3:  

 

Der Patient beschwert sich (Ankläger) schon bei den ersten Wiederholungen einer Übung, dass die Belastungen zu schwer seien. Tatsächlich hat er die Übung in der letzten Therapieeinheit durchführen können. Er hat sie, methodisch konform, in der vorhergehenden Einheit nach ca. 70 Sek. wegen muskulärer Ermüdung/Erschöpfung abgebrochen. Aufgrund der Äußerung des Patienten reduziert der Therapeut das Gewicht in der Folgeeinheit, damit der Patient weiter trainiert. Das systematische progressiv dynamische Krafttraining ist methodisch notwendig, damit der pathologische Zustand der Muskulatur (mangelnde simultane Rekrutierung, Atrophie der Typ II-Muskelfasern) beseitigt wird. Allerdings hat der Patient im vorhergehenden Training, vielleicht zum ersten Mal, die Übung mit einem (azidotischen) Schmerz beendet. Methodisch ist das erwünscht. Der Patient hat im Laufe seiner "Karriere“ gelernt, eine Belastung, bei der es zu Schmerzen kommt, zu meiden. Er verhält sich deshalb seinen konditionierten Mustern entsprechend. Beim Erkennen einer vergleichbaren Intensität in der Folgeeinheit reagiert er so, wie sein erlerntes Muster es vorgibt: Er versucht sie zu vermeiden. 

 

Fazit: Der Fehler lag darin, dass der Therapeut in der vorhergehenden Therapieeinheit nicht den Zweck der Belastung und die Form des Schmerzes adäquat erläutert hat (Edukation). Das Ergebnis der letzten Einheit (70 Sek. erschöpfende Belastung) lässt notwendigerweise den Schluss auf die Azidose zu. Der Therapeut muss daraus schließen, dass der Patient azidotische Beschwerden verspürt. Darauf sollte er mit einer informellen Strategie reagieren, die dem Patienten die Angst nimmt. Die Reduktion der Belastung jedoch bestätigt den Patienten in seinem Modellverhalten. Auf diesen zentralen Belastungsaspekt wird im Nachhinein noch eingegangen. Derartige Konfliktsituationen, die sich im Wesentlichen aus den nicht bewussten Interaktions- und gegenseitigen Übertragungsmechanismen entstehen, können vermieden werden. Der Therapeut darf aber dabei, genau wie die standardisierte Methodik zur Beseitigung der muskulären Defizite, die Interaktionennicht dem Zufall überlassen. Er muss sein Interaktionsverhalten unter Berücksichtigung der Verhaltensmechanismen des Patienten so weit wie möglich planen. Sinnvolle Lösungen derartiger Situationen werden im folgenden Abschnitt behandelt. 

 

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Lösungsvorschläge aus dem standardisierten Therapieprozess 

 

Die methodischen Prozesse innerhalb einer systematischen funktionellen medizinischen Rückenschmerztherapie sind in wesentlichen Teilprozessen standardisiert [Harter et al. 2010]. Sie gliedern sich innerhalb des Aufbauprogramms in: 

 

  • Eingangsanalyse 
  • Aufbauprogramm (i.d.R. 24-stündig) 
  • Abschlussanalyse 

 

Ein weiteres Gliederungsmerkmal besteht in den Methode eines systematischen progressiv dynamischen Krafttrainings. Es beinhaltet wichtige Elemente einer progressiv ausgerichteten Konfrontationstechnik. Dies ist bedeutsam für die kognitiven Ziele im Training (kognitive Umstrukturierung) [Harter et al. 2004]. 

 

Trainingsziele sind [Harter et al. 2004]: 

  • systematische Beseitigung der muskulären Defizite (primäres Trainingsziel) 
  • Vermeidung der Chronifizierung 
  • Verbesserung der Eigenkompetenz des Patienten im Umgang mit Bewegung und Belastung (Kontrollüberzeugungen) [Nickel 1995]
  • Reduktion der angstbesetzten Kognitionen (Fear Avoidance Beliefs) [Wadell et al. 1993]

 

Danach ist der Therapieprozess auszurichten. In diesem Abschnitt werden chronologisch die methodisch geplanten und erwarteten Situationen aus didaktischer Sicht beschrieben. Die Darstellung soll zeigen, wie durch die geplante Interaktion des Therapeuten die wichtigsten Konfliktsituationen vermieden werden können.  

 

Analyse und Testsituationen 

Eine anfängliche Analyse vor Beginn der Therapie stellt einen wichtigen Abschnitt im Beziehungsaufbau zwischen Therapeuten und Patienten dar. In der Analyse wird der Patient auf die Therapieziele ausgerichtet. Sie beinhaltet im Idealafall: 

 

  • Messung der muskulären Defizite 
  • Erfassung der individuellen (Verhaltens-) Merkmale: 
    • Kontrollüberzeugung Wirbelsäule (KüWs) [Nickel 1995]: Internalität, soziale und fatalistische Externalität 
    • Fear avoidance beliefs (FABQ) [Wadell et al. 1993]: angstbesetzte Kognitionen 
    • Alltagsbewältigung 

 

In der Durchführung der Analyse, insbesondere der Messung der maximalen isometrischen Drehmomente, wird der Patient in zweierlei Hinsicht mit seinen angstbesetzten Kognitionen konfrontiert: 

 

  • Er führt isolierte Bewegungen aus, die er i.d.R. entweder meidet, oder er weiß über sie, dass sie vermeintlich gefährlich sind (z.B. die Rumpf- Rotation). 
  • Er führt die Belastungen in einer Intensität aus (isometrische Maximalkraft), die bei ihm mit Angst besetzt sind. 

 

Der Therapeut sollte dem Patienten deswegen Informationen wie "Die Fixierung dient Ihrer Sicherheit und vermeidet das Risiko von Verletzungen“ liefern, die ihm die Angst nehmen. Über Handlungen des Therapeuten, die der Patient nicht sehen kann, sollte er ihn stets aufklären. Der Begriff Schmerz sollte (auch im weiteren Therapieprozess) vermieden werden und durch Synonyme wie belastungsbedingte Anspannung o.Ä. ersetzt werden. 


Es empfiehlt sich, die Besprechung der Analyse unter einem wichtigen Prinzip durchzuführen: Der Patient interpretiert sein Ergebnis! Das ist insofern nützlich, da er gerade bei einer aktiven Therapie die Vereinbarungen und Ziele im Sinne einer Selbstverpflichtungauch selbst formulieren muss. Dies kann der Therapeut durch Führung mit gezielter Fragetechnik erreichen. Dazu ein Beispiel

 

Der Therapeut legt das Analyseergebnis vor. Ein Plot stellt ein Stärken- und Schwächenprofil der wirbelsäulenstabilisierenden Muskulatur dar. Er erläutert mit knappen und einfachen Worten die Darstellungsprinzipien (Vergleich mit beschwerdefreien Referenzpersonen, Normalbereich/ Bereiche auffälliger Abweichung, unterschiedliche Muskelgruppen). Danach fragt er den Patienten, was ihm an der Analyse besonders auffällt. Der Patient beschreibt die Besonderheiten, die ihm auffallen, z.B., dass dieser Wert besonders weit links (defizitär) sei oder jene Kurve ein richtiges Zickzack. Darauf geht der Therapeut tiefer ein. Dieses Vorgehen erhöht die Aufmerksamkeit des Patienten auf die von ihm selbst identifizierten Merkmale. Dabei lenkt der Therapeut den Patienten auf die gewünschte Frage:

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"Was meinen Sie, was können Sie selbst tun, um die Risiken einer mangelnden Stabilisierung zu reduzieren?“ Die ideale Antwort ist: "Ich muss etwas tun, um die Muskulatur aufzubauen. Ich muss trainieren.“ 

 

Fazit: Der Therapeut gibt den Therapieauftrag in die Eigenverantwortung des Patienten. Ähnlich verfährt er bei der Interpretation der psychometrischen Befragung. Der Therapeut vermeidet es, dem Patienten die Antworten vorzugeben, vielmehr formuliert er Fragen wie: 

 

  • "Weshalb nehmen Sie an, dass Ihre Kontrolle über die Beschwerden schicksalhaft eingeschränkt ist?“ 
  • "Warum sind Sie überzeugt – unter dem Aspekt mangelnder Kraft –, dass die Beschwerden Ihre Arbeitsfähigkeit einschränken“ 

Die Antworten geben dem Therapeuten die Möglichkeit, für den weiteren Therapieverlauf mit dem Patienten entsprechende Ziele zu vereinbaren, z.B., dass der Patient in der Therapie überprüfen kann, inwieweit er selbst z.B. bei belastungsbedingten Beschwerden positiven Einfluss nehmen kann. Eine geeignete Vereinbarung kann sein, dass der Patient zusagt, in solchen Situationen zuerst auf die vom Therapeuten empfohlenen Strategien wie entlastende gymnastische Übungen oder Entspannungstechniken zurückzugreifen. Solche Vereinbarungen sollten auch, wenn möglich, mit dem behan- delnden Arzt abgesprochen werden. 

 

Bei den Zielvereinbarungen ist auch eine systematische Befragung der  Alltagsbewältigung sehr hilfreich. Der Patient stellt graduiert dar, welche alltäglichen Tätigkeiten/Belastungen (Gehen, Strümpfe anziehen, Auto fahren) ihm besondere Schwierigkeiten bereiten. Bei der Gelegenheit kann der Therapeut fragen, welche Tätigkeit wieder -bei erfolgreicher Therapie-  erreicht werden soll. Dieser Punkt ist äußerst wichtig! 

 

Die Analyseergebnisse sind weitgehend abstrakte Abbildungen, insbesondere für den Patienten. Deswegen kann der Patient bei der Vorgabe einer so wieder gewünschten Tätigkeit ein Ziel vorgeben, das seiner Begrifflichkeit und Visualisierung entspricht. Das Ziel sollte möglichst unabhängig vom Schmerz und realistisch sein. Dazu wiederum ein  Beispiel:  

 

Eine Patientin formulierte den Wunsch, ihren Enkel wieder auf den Arm nehmen zu können. Da er lediglich 30 kg wog, war diese Zielvorstellung realistisch. Bei 120 kg hätte der Wunsch vom Therapeuten als unrealistisch verworfen werden müssen. Das Ziel konnte vom Therapeuten und der Patientin als Therapieauftrag vereinbart und im Therapieplan dokumentiert werden. Anhand des Therapieauftrags konnte der Erfolg in der Vorstellung der Patientin immer wieder visualisiert werden. 

 

Visualisierte Ziele sind besonders hilfreich, wenn es darum geht, einen Menschen auf emotionaler Ebene unterstützend zu aktivieren. Unser limbisches System arbeitet nur aufgrund visueller Muster/Bilder. Zur Unterstützung eines solchen Ziels ist sogar ein an den Trainingsplan geheftetes Foto der Patientin mit ihrem Enkel nützlich. Damit kann sie, auch in kritischen Situationen, stets auf ihr Ziel verpflichtet werden (Termineinhaltung; hohe, methodisch notwendige Belastungen u.Ä.). 

 

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Aufbauprogramm 

 

Zur Beseitigung von erworbenen Verhaltensmustern sind unterschiedliche Strategien bekannt [Zimbardo 1983]: 

 

Löschung negativer/positiver Verstärker. Das Grundprinzip der Strategien ist relativ einfach: Bei unerwünschtem Verhalten wird jede Form von Verstärkern unterlassen (Löschung). Erwünschtes Verhalten wird belohnt (positive Verstärker). Beispiele: In der o.g. Therapiesituation 2 (Patient reibt sich mit schmerzhafter Gestik den Rücken) kommuniziert der Patient auf nonverbaler Ebene:

 

  • Ich habe Schmerzen! 
  • Kümmere Dich um mich! 

 

Das Verhalten zeigt zwei Dimensionen der Interaktion: Der Patient hat gelernt, dass nur die Kommunikation von Beschwerden im medizinischen System (Therapieeinrichtung, vertreten durch den Therapeuten) Maßnahmen auslöst. Dies steckt implizit im gesellschaftlichen Auftrag des Therapeuten, denn er versucht, das Auftreten einer Erkrankung oder deren Fortschreiten zu verhindern bzw. zu reduzieren. Gleichzeitig hat er eine ökonomie- und dienstleistungsorientierte Motivation. Insofern ist die Interessenlage auf der obersten Ebene eindeutig. Gleichzeitig wirkt die (mitfühlende) Zuwendung des Therapeuten auf das Patientenverhalten als positiver Verstärker. Erhält der Patient nun passive Hilfestellung (Massagen, Entlastung, positive Zuwendung), so erhöht sich die (Verhaltenshäufigkeit) Inanspruchnahme des medizinischen Systems und damit ein unangemessenes, die Krankheit förderndes Verhalten. Je seltsamer/auffallender das Verhalten ist, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit der Zuwendung. Das Verhalten wird nicht zuletzt moderiert durch individuell unterschiedliche erlernte Techniken, die sich in den von Sternbach beschriebenen Interaktionsmustern der therapieresistenten Patienten wieder finden. 

 

Lösung: Der Therapeut steckt in einem Dilemma! Einerseits möchte er dem Patienten helfen, andererseits konterkariert Zuwendung und Helfen den Therapieauftrag. Erwünscht sind die Aktivitäten des Patienten im Sinne schmerzbewältigender und -verarbeitender Strategien. Empfehlenswert ist eine bewusste Kommunikation, sowohl auf verbaler als auch auf nonverbaler Ebene: Der Therapeut zeigt Aufmerksamkeit: "Sie haben Schmerzen!“ Er stellt keine Frage, sondern äußert eine Feststellung (Ich habe es bemerkt!). Unterstützt wird seine Bemerkung durch eine Passivität zeigende Haltung, wie z.B.: Hände auf dem Rücken verschränken (Ich werde nicht handeln!). Das Verhalten und die Äußerungen müssen eindeutig signalisieren, dass es für das Verhalten des Patienten keine Belohnung gibt. Anschließend muss schnell der Weg in die positive Verstärkung gefunden werden, z.B. mit der Frage: "Was habe ich Ihnen empfohlen/gezeigt, was Sie machen können, wenn Sie solche Beschwerden haben?“ Eine positive Antwort und entsprechendes Verhalten des Patienten (eigene Aktivität zur Lösung der Beschwerden), wie: "Ich soll eine Dehnübung machen“ o.Ä. aus dem Therapiekontext heraus, muss nun sofort belohnt werden! Der Patient erhält, was er sich wünscht. Der Therapeut begleitet ihn, zeigt Fürsorge. "Sehr gut! Ich komme einmal mit und sehe zu, dass Sie alles korrekt machen.“ Er belohnt ihn. Es erfordert oft ein hohes Maß an Zurückhaltung von Seiten des Therapeuten, nicht unerwünschte Verstärker zu liefern. Deswegen müssen die Absprachen im Team eindeutig sein. Es ist fatal, wenn Löschungsstrategien des einen Therapeuten durch die Zuwendung eines anderen wieder aufgehoben werden. 

 

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Implosivtechniken (Reizüberflutung). Operande Modelle erkennen im konditionierten Verhalten des Patienten phobische Elemente (Kinesiophobie). Der Patient hat gelernt, sich vor stark belastenden Bewegungen zu fürchten. Die einzige Situation, in der eine implosive Strategie erfolgen kann, ist die Messung des maximalen isometrischen Drehmoment (Biomechanische Funktionsanalyse). Hier führt der Patient isometrische Maximalkraft aus. Auch wenn die Messmethode reliabel ist und geringe mechanische Risiken birgt (geringe Drop-out-Quote [Uhlig et al. 2000, 2003]), so kann sie für den Patienten eine höchst angstbesetzte Situation darstellen. Der Therapeut gibt bei der Funktionsanalyse sehr viele Informationen, die dem Patienten die Angst nehmen. Nach der Analyse kann er feststellen: 

 

  • "Sie haben Ihre maximale Kraft eingesetzt, ohne dass etwas passiert ist“ oder:
  • "Wenn etwas passiert wäre, wäre es längst geschehen“. Cave! Dies ist ein möglicherweise riskantes Manöver, das einer guten Abstimmung im gesamten Therapeutenteam bedarf. Verfolgt der Patient (unbewusste) massiv an einem Krankheitsgewinn orientierte Strategien, so wird er bei der nächsten Gelegenheit zeigen, wie Unrecht der Therapeut hat. 

 

In Kombination mit einer gezielten medikamentösen Schmerztherapie sind solche Strategien allerdings durchaus geeignet.  Beispiel: 

 

Der Patient führt häufig seine Beschwerden auf die organische Substanz seiner schmerzauslösenden Strukturen zurück. Verhandelt man mit dem Patienten um folgende Strategien, so kann der Patient -unter den Bedingungen einer hohen körperlichen Beanspruchung- sein Krankheitsmodell überprüfen:

 

  • periphere Analgetika: weiterhin (chronischer) Schmerz 
  • zentrale Analgetika: keine Schmerzen, trotz durchgeführter hoher körperlicher Belastung 

 

Gleichzeitig führt er Beanspruchung durch, von denen er annimmt/ annahm, dass diese ihn Schädigen, was im Ergebniss aber nicht stattfindet. Allerdings erfordert dies, dass der Patient gut über die unterschiedliche Wirksamkeit der Medikamentierung, aber auch die Bedeutung seiner organischen/degenerativen Veränderungen informiert wird (Edukation). 

 

Aversive Techniken (Bestrafung). Aversive Techniken sind Strategien, die vornehmlich bei Verhaltensstörungen, die mit kurzfristigem und unmittelbarem Genuss verbunden sind, eingesetzt werden (Suchtverhalten). Ihr Einsatz ist innerhalb aktiver Therapiemaßnahmen weniger geeignet. 

 

Desensibilisierung. Aufgrund der kinesiophobischen Aspekte bieten sich in der integrierten funktionellen Rückenschmerztherapie desensibilisierende Techniken an [Harter 2003]. Die Trainingsmethodik ist, orientiert an dem pathologischen Zustand der betroffenen Muskulatur, progressiv dynamisch strukturiert. Was bedeutet dies für die Verhaltensmechanismen des Patienten innerhalb eines operanden Modells? 

 

Die Analyse zeigt folgende Merkmale: 

 

  • Die bestehenden Defizite zeigen, dass der Patient Bewegungen gemieden hat. Alters- und geschlechtsgleiche untrainierte Referenzpersonen holen sich offensichtlich aus dem bestehenden Alltag adäquate Reize, die der Patient aber meidet. Je größer seine angstbesetzten Kognitionen und damit seine Vermeidungsstrategien sind, umso größer ist auch sein Defizit [Harter et al. 2003]. 
  • Individuell zeigt die Analyse, in welchen Bewegungsebenen und auf welcher Segmenthöhe seine stärkste Angstattribution besteht. 

 

Die Analyse charakterisiert also zusätzlich die körperliche Ebene des kognitiv motivierten Bewegungsverhaltens. Es darf angenommen werden, dass die Bewegungsebene mit dem größten Defizit auch die höchste angstbesetzte Priorität hat. Innerhalb des Therapieprozesses müssen daher desensibilisierende Strategien verfolgt werden. Typische Merkmale müssen folgende Aspekte sein: 

 

  • Der Patient muss entspannende Techniken aus dem Training lernen (Gymnastik, Lagerung u.Ä.). Sie müssen ihm als Strategien vermittelt werden, die er selbst bewältigen kann. 
  • Nach der Auseinandersetzung mit der angstbesetzten Situation – Durchführung der Übung – muss der Therapeut dem Patienten Informationen liefern, die ihm seine Angst nehmen. Dazu gehört auch die Vermittlung anatomischer und neu- rophysiologischer Kenntnisse. Sie sollte unmittelbar nach der Belastung in einer Entspannungsphase erfolgen. 

 

Gleichzeitig sind Vermeidungsstrategien (s. Situation 3) und Schmerzexpressionhäufig auch als Ausdruck der noch bestehenden Bewegungsangst zu verstehen. Der Patient muss sich zunehmend mit immer stärkeren angstbesetzten Reizen auseinandersetzen. So wie der Arachnophobiker erst mit kleinen Spinnen beginnt, um nach und nach die Konfrontation mit immer größeren Spinnen zu ertragen, so fängt der Kinesiophobikermit kleinem Gewicht und dem Bewegungslernen an. Am Ende der Trainingstherapie setzt er sich den Situationen aus, vor denen er bisher am meisten Angst hatte (Bewältigung muskulär stark ermüdender Belastungen). 

 

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Die Situationen auf muskelphysiologischer Ebene sind aus der Planung gut vorhersehbar. Der Patient beginnt mit sehr leichten Gewichten, die prinzipiell noch keine atrophischen Reize auslösen. In der Regel beginnt der Patient mit einem Bewegungsschmerz, der jedoch während der Übung nachlässt. Der Therapeut sollte den Patienten vor der Durchführung davon in Kenntnis setzen, z.B.: "Es zieht zuerst ein wenig, aber dann lässt der Schmerz nach.“ Bei dem zu erwartenden Ergebnis hat der Therapeut einen Vertrauensvorschuss gewonnen, den er sofort in die Edukation umsetzen und dem Patienten die entspannende Wirkung auf morphologischer Ebene erläutern sollte. Außerdem sollte er ihm erklären, dass die zu erwartende Reaktion nach der positiven Wirkung des Trainings i.d.R. nach dem Cool- down wieder nachlässt. Belastungsreaktionen am folgenden Tag sind ebenso natürlich: "Wenn Sie morgen nichts spüren, dann haben wir einen Fehler gemacht. Spüren Sie morgen die heutige Belastung, so ist es nor- mal. Ihr Körper reagiert, und das ist gut so.“ Auch hier gilt, dem Patienten die Wirkungszusammenhänge, insbesondere auch von Muskelkater als natürliche Belastungsreaktionzu erläutern. 

 

In der o.g. Situation 3 ist nach gleichem Muster zu verfahren. Der Patient wird innerhalb der methodischen Progression belastet, was eine muskuläre Ermüdung herbeiführt. Geschieht dies nach 50–70 Sek., so ist zu erwarten, dass der Muskel azidotisch reagiert. Der Patient muss also einen physiologischen Belastungsschmerz erlebt haben. Die Situation ist nun für den Patienten und Therapeuten gleichermaßen enttäuschend. Bisher hatten beide ihre Beziehung als positiv erlebt. In der genannten Situation muss der Therapeut, der die Übersäuerung des Muskels erwartet und sich wünscht, professionell reagieren. Er sollte 

 

  • sich möglichst nicht auf eine Reduktion des Gewichts einlassen. Es würde das gegebene Verhaltensmodell des Patienten verstärken. 
  • auf jeden Fall dem Patienten die verschiedenen Belastungsprinzipien und energetischen Vorgänge erläutern. Der Patient muss verstehen, was die Übersäuerung des Muskels bedeutet. 
  • dem Patienten nachhaltig die Wirksamkeit von Entspannung- und entlastender Gymnastik verdeutlichen (Stufenlagerung: "Spüren Sie, wie die Beschwerden wieder nachlassen.“ Gezielte Gymnastikübung: "Suchen Sie über den Zug die Stellen, die Ihnen Beschwerden machen, und spüren Sie, wie die Beschwerden nach Auflösung der Dehnung wieder nachlassen“). Damit unterstützt er die internalen Kontrollüberzeugungen des Patienten. 
  • andere, vergleichbare Belastungen mit dem Patienten unter ähnlichen laktaziden Belastungsbedingungen durchführen. Zu empfehlen sind Beinstrecker, aber auch intensive Bizepscurls (Training der Armbeuger). Wenn der Patient die laktazide Belastungverspürt, kann er vergleichend die Erklärung des Therapeuten nachvollziehen (zusätzlich angstnehmende Wirkung). 

 

Er wird solche Belastungserscheinungen, insbesondere wenn er seine muskuläre Verbesserung nachvollzieht (Folgemessungen), als nicht bedrohlich einstufen.

 

"Begreifen kommt von Greifen“ [Piaget 1968, S. 23] – in diesem Sinne ergeben sich in der integrierten funktionellen Rückenschmerztherapie viele Gelegenheiten, in denen der Patient seine Konzepte, die besonders die Vermeidung von Bewegungen zum Inhalt haben, selbst überprüfen kann. Dabei kommt es zu kognitiven Umstrukturierungen (und zur Verbesserung seiner Fähigkeit zur Handlungsplanung), die nicht nur die Konzepte des Patienten zur körperlichen Aktivität betreffen [Harter et al. 2004]. Sie tangieren auch seine Konzepte zur beruflichen Tätigkeit und Fortführung seiner Arbeit. "Nur ein Schiff, das in der Vorwärtsbewegung ist, kann gelenkt werden.“[J.C. Maxwell] 

 

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